Unfall oder Krankheit
In unserer orthopädischen Praxis werden wir und auch unserer Patientinnen und Patienten immer häufiger mit der Frage konfrontiert, ob das Problem, welches sie oder ihn in unsere Sprechstunde geführt hat, unfallbedingt oder Folge einer Krankheit (bedeutet hier meistens durch Abnützung bedingt) ist. Aus der Antwort auf diese Frage ergibt sich dann meist auch der Leistungserbringer (Unfallversicherung oder Krankenkasse). Der Leistungserbringer ist insofern für vielen Patientinnen und Patienten wichtig, da sie bei der Unfallversicherung keine Franchise und keinen Selbstbehalt bezahlen müssen. Vielen Patientinnen und Patienten haben zudem unterschiedliche Konditionen in der Taggeldversicherung bei Unfall oder Krankheit. Und relativ häufig sind Patientinnen oder Patienten auch bei „Krankheit oder Unfall“ unterschiedlich versichert, da die Privatzusatzversicherung bei Unfallversicherungen viel günstiger ist als bei den Krankenkassen für den Krankheitsfall.
Für die Patientinnen und Patienten ist die Beantwortung der eingangs gestellten Frage jeweils völlig klar. Sie hatten vor dem „Unfallereignis“ nie ähnliche Probleme, ergo muss die „Verletzung“ Unfallfolge sein.
Leider ist die Realität aber häufig eine ganz andere! Es gibt verschiedene wichtige Punkte, die erfüllt sein müssen, damit ein körperlicher Schaden als Unfallfolge anerkannt wird.
Zunächst muss das Ereignis die Unfalldefinition gemäss Unfallversicherungsgesetz (in der Folge nur noch UVG genannt) erfüllen: „Es muss sich um eine plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper handeln, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen und physischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat.“
Wenn jemand z.B. beim Montieren einer Deckenlampe die schwere Lampe längere Zeit überkopf stemmen muss und anschliessend Schmerzen in der Schulter verspürt, ist die Unfalldefinition nicht gegeben. Es handelt sich bei längerem Stemmen eines schweren Gegenstandes überkopf um kein plötzliches Ereignis.
Wenn ein Bauarbeiter auf der Baustelle eine schwere Kiste heben muss und in der Folge Rückenschmerzen entwickelt, ist dies ebenso wenig Unfallfolge. Das Heben von schweren Gegenständen stellt für einen Bauarbeiter eine „Routinearbeit“ (also kein ungewöhnlicher äusserer Faktor) dar.
Es ist auch nicht klar Unfallfolge, wenn sich jemand beim Auspacken eines Fernsehers beim ruckartigen Herausheben des Fernsehers aus der Verpackung einen Riss der Bizepssehne am Ellbogen zuzieht. Das ruckartige Anheben des Fernsehers war eine beabsichtigte Aktion und das relativ schwere Gewicht des Fernsehers war zu erwarten.
Ein zweiter, ebenso entscheidender Faktor im UVG besagt, dass die Verletzung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückgeführt werden muss. Es muss also eine gewisse prozentuale Wahrscheinlichkeit vorhanden sein. Wie hoch dieser Prozentsatz effektiv sein muss, darüber herrscht nicht einmal in der juristischen Literatur Einigkeit. Je nach Autor variiert die Auffassung von 67 bis hin zu 95%! Klar ist jedoch bei aller Autoren, dass eine Wahrscheinlichkeit von 51% nicht ausreicht! Es liegt hier quasi eine umgekehrte Situation im Vergleich zum Strafrecht vor. Im Strafrecht wird im Zweifelsfall zugunsten des Angeklagten entschieden. Im UVG wird hingegen im Zweifelsfall eigentlich zu Ungunsten des Patienten entschieden. Die Patientin oder der Patient müssen beweisen, dass der Schaden ohne Unfall nicht eingetreten wäre und dieser sogenannte Kausalzusammenhang zwischen Unfallereignis und Schaden ist für die Patientinnen und Patienten meist sehr schwer zu erbringen. Umgekehrt muss die Versicherung hingegen nicht beweisen, dass der Schaden möglicherweise auch durch Abnützung entstanden sein kann, hier reicht bereits eine Wahrscheinlichkeit von ca. 50%.
Dieser Aspekt ist gerade bei Sehnenverletzungen an der Schulter sehr wichtig. Statistisch gesehen sind deutlich mehr als 50% der Schäden an den Sehnen der Rotatorenmanschette degenerativ (durch Abnützung) und nicht unfallbedingt. Daher reicht häufig als Argumentation der Versicherung, dass der Schaden mit ähnlich hoher Wahrscheinlichkeit degenerativ bedingt sein kann. Für die Anerkennung als Unfallfolge müsste die Wahrscheinlichkeit jedoch deutlich über 50% (überwiegende Wahrscheinlichkeit) betragen.
Ausserdem besteht bei whs. ca. 75% der Bevölkerung über 60-jährig in Europa eine Arthrose (Abnützung) im Schultereckgelenk, welche jeweils im MRI sehr gut sichtbar ist und daher von den Radiologen auch fast immer beschrieben wird. Somit bestehen in den Augen der Versicherungen in ca. 75% der Fälle „relevante degenerative Veränderungen“, welche natürlich schon vor dem Unfall vorhanden waren.
Eine ganz ähnliche Problematik besteht bei den Meniskusläsionen am Knie. Auch hier wären whs. in einem MRI bei über 50% der beschwerdefreien Bevölkerung über 60 Jahre gewisse Abnützungsschäden am Meniskus erkennbar. Wenn nun nach einem banalen Fehltritt plötzlich Schmerzen im Knie auftreten und im MRI ein Meniskusriss diagnostiziert wird, spielen wie bei der Arthrose des Schultereckgelenkes diese „Vorschäden“ den Versicherungen enorm in die Hände. Die Versicherung kann in diesen Fällen argumentieren, dass ja objektivierbar bereits „Abnützungsschäden“ in der Schulter oder im Knie vorhanden sind und damit wahrscheinlich auch die Schäden an den Sehnen oder dem Meniskus im Rahmen dieser Abnützung entstanden sind, wobei dieses „wahrscheinlich“ in der juristischen Argumentation eben häufig schon ausreicht. Da hilft leider die Aussage der Patientinnen und Patienten absolut nichts, dass sie vor dem „Unfall“ keinerlei Beschwerden hatten. Die Versicherungen argumentieren häufig, dass es „nur zu einer vorübergehenden Verschlechterung eines bereits vorhandenen Vorschadens“ gekommen ist – quasi der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. In diesen Fällen zahlt die Versicherung häufig höchstens die Behandlung für max. drei Monate, da dann gemäss UVG der Vorzustand wieder erreicht sein sollte. Alle Beschwerden die danach bleiben, sind dann (gemäss Argumentation der Versicherung) durch die Vorschäden bedingt. Teilweise reicht juristisch sogar schon die Aussage, dass z.B. die Sehne schon so stark geschädigt war, dass sie ohnehin auch ohne dieses Ereignis in absehbarer Zukunft gerissen wäre!
Ausserdem muss der Unfall immer gut dokumentiert sein. Wenn z.B. nach einem Unfall Schmerzen v.a. am Handgelenk und nur wenig an der Schulter bestehen und daher nur das Handgelenk im Bericht erwähnt wird, vermindert dies ganz enorm die Wahrscheinlichkeit, dass der Schaden an der Schulter als Unfallfolge anerkannt wird, wenn die Schulter nach zwei bis drei Monate schmerzhafter wird!
Ohnehin sollte die medizinische Abklärung wenn immer möglich relativ zeitnahe, das heisst am besten innerhalb von ca. zwei Wochen erfolgen. Wenn Beschwerden nach einem Unfall erst nach vier Monaten erstmals abgeklärt werden, kann die Versicherung argumentieren, dass die Patientin oder der Patient wegen Beschwerden schon früher eine Abklärung durchgeführt hätte, wenn die Schädigung wirklich bei diesem Ereignis eingetreten wäre.
Wie sie sehen, ist die Frage: „Unfall- oder Krankheitsfolge“ – und damit meist auch die Frage des entsprechenden Kostenträgers (Unfallversicherung oder Krankenkasse) häufig nicht so eindeutig und v.a. nicht so einfach zu beantworten, wie es im ersten Moment scheint!
Viele Patientinnen und Patienten können dies jeweils nicht verstehen und wenden sich in der Folge an uns, wenn ihr Fall von der Unfallversicherung abgelehnt wurde. Dabei haben wir behandelnden Ärztinnen und Ärzte wenig bis gar keinen Einfluss auf die Entscheidung der Versicherungen. Es handelt sich hierbei um eine rein versicherungstechnische und nicht um eine medizinische Problematik/Diskussion. Daher sind für diese Probleme die Versicherungen und leider nicht wir die primären Ansprechpartner. Allenfalls können wir ihnen in der Argumentation (bei schweren Fällen ev. auch zu Händen ihrer Rechtsschutzversicherung) den Versicherungen gegenüber helfen. Insgesamt ist dieser Einfluss jedoch häufig sehr klein.