16.09.2021
Die inverse Schulterprothese – verkehrte Welt in der Schulterchirurgie
Künstliche Gelenke werden heute nicht nur an der Hüfte und am Knie eingesetzt, auch an der Schulter wird diese Operation regelmässig durchgeführt.
An der Schulter gibt es sogar zwei verschiedene Prothesen die eingesetzt werden können, die anatomische und die inverse Prothese.
Schemazeichnung anatomische Prothese (freundliche Genehmigung FA Medacta)
Anatomische Schulterprothese
Bei der anatomischen Prothese wird vom Prinzip her die Anatomie 1:1 ersetzt. Die Halbkugel kommt an die Stelle des Oberarmkopfes und die neue Pfanne wird auf die alte Pfanne auf das Schulterblatt gesetzt.
Bei noch gut erhaltenem Abstand zwischen Schulterdach und Oberarmkopf (als Hinweis für eine noch relativ gut erhaltene Rotatorenmanschette) kann noch eine anatomische Schulterprothese eingesetzt werden.
(Links) starke Abnutzung des Glenohumeralgelenkes. (Rechts) Röntgenbild mit anatomischer Schulterprothese
Modell einer inversen Schulterprothese (freundliche Genehmigung FA Medacta)
Inverse Schulterprothese
Bei der inversen Prothese wird die Anatomie komplett umgedreht - quasi auf den Kopf gestellt. Die beiden Gelenkpartner werden vertauscht. Die Halbkugel wird mit einer Platte auf die ehemalige Pfanne aufgebracht. Dafür wird die «neue Pfanne» mittels eines Schaftes auf den Oberarmknochen gesetzt. Verkehrte Welt…!
(Links) Bei komplett aufgehobenem «Abstand» zwischen Schulterdach und Oberarmkopf - es hat keine Rotatorenmanschette mehr dazwischen Platz - oder (Mitte) bei erneut gerissenen Sehnen nach Rotatorenmanschetten-rekonstruktion muss für eine gute Funktion eine inverse Schulterprothese eingesetzt werden (Rechts)
Wie kommt man auf die Idee, die Anatomie der umzudrehen?
Diese Frage hätte man Prof. Dr. Paul Grammont stellen müssen, dem Erfinder dieser Prothese. Diese Frage kann er nicht mehr selber beantworten, da er 2013 in Lyon verstorben ist. Er war ein Tüftler und ist neben Charles S. Neer der zweite «Vater» der Schulterprothetik. Charles Neer hat die Schulterprothetik gross gemacht, Paul Grammont hat sie bezüglich Funktion auf ein neues Level gehoben.
Er hat festgestellt, dass früher viele Patienten mit künstlichen Schultergelenken zwar kaum Schmerzen, dafür aber auch nur eine bescheidene Funktion (Beweglichkeit und Kraft) hatten. Dies hat sein besonderes Interesse geweckt!
Nach jahrelangem Forschen hat er herausgefunden, dass die anatomische Prothese, genau wie das natürliche Schultergelenk, die Muskeln und Sehnen der Rotatorenmanschette benötigt, damit das Gelenk gut bewegt und eine gute Kraft entwickeln kann. Leider haben aber nur wenige Patienten mit einer schweren Arthrose der Schulter noch gute Sehnen der Rotatorenmanschette. Sowohl der Gelenkknorpel als auch die Sehnen der Schulter müssen in ihrem Leben v.a. durch die vielen Überkopfbewegungen, die wir jeden Tag durchführen, grossen Belastungen standhalten und sind daher zwangsläufig eher früher als später starken Abnützungsprozessen unterworfen, welche die Qualität des Knorpels und der Sehnen Jahr für Jahr schlechter werden lassen. Die meisten Patienten haben bei einer fortgeschrittenen Arthrose auch stark abgenützte Sehnen. Die typische Ausnahme sind Patienten nach einen komplexen Schulterbruch, welche nach relativ kurzer Zeit eine fortgeschrittene Arthrose der Schulter entwickeln, bei denen die Abnützung der Sehnen aufgrund der kurzen Zeit aber noch wenig fortgeschritten ist. Diese Patienten sind die wenigen, die sich sehr gut für eine anatomische Prothese eignen.
Für eine gute Beweglichkeit und Kraft der Schulter ist eine funktionierende Rotatorenmanschette zwingende Voraussetzung. Beim Anheben des Armes zieht der grosse Schultermuskel (Deltamuskel) den Oberarmkopf näher unter das Schulterdach. Damit dieser nicht unter dem Schulterdach ansteht und somit das Gelenk quasi blockiert, müssen die Muskel der Rotatorenmanschette dagegenhalten und die Kugel nach unten stabilisieren. Bei komplett gerissenen Sehnen der Rotatorenmanschette ist dies nicht mehr möglich.
Grammont hat nach langem Tüfteln ein völlig neues und völlig revolutionäres künstliches Schultergelenk entwickelt, welches die nicht mehr funktionsfähige Rotatorenmanschette kompensieren kann, die inverse Schulterprothese.
Dabei sind zwei biomechanische Faktoren entscheidend:
1. Der Drehpunkt des Gelenkes wird um mind. zwei Zentimeter nach innen verschoben (= medialisiert). Dadurch erhält der Deltamuskel einen längeren Hebelarm und somit mehr Kraft.
2. Der Drehpunkt wird um gut zwei Zentimeter nach unten verschoben (= distalisiert). Dadurch erhalten die Fasern des Deltamuskels eine bessere Vorspannung und damit einen besseren «Wirkungsgrad».
Schemazeichnung mit "Medialisierung" und "Distalisierung" des Drehzentrums bei inverser Prothese
Diese beiden Punkte bewirken eine deutlich bessere Wirkungsweise des Deltamuskels. Zudem verhindert das Design der Prothese eine Hochwandern des Oberarmkopfes und damit ein Anstehen unter dem Schulterdach. Damit gelingt es auch bei fehlender Rotatorenmanschette wieder, den Arm praktisch vollständig überkopf anzuheben.
Über 80-jährige Patientin mit inverser Prothese an der rechten Schulter
Dank der inversen Schulterprothese konnten die Resultate bei künstlichen Schultergelenken v.a. in den letzten ca. zehn Jahren enorm verbessert werden, so dass nun die Resultate nach Schulterprothese vergleichbar sind mit denjenigen nach Knieprothesen.
In den meisten Fällen werden heute inverser Schulterprothesen eingesetzt, wobei das Verhältnis invers zu anatomisch schweizweit wie auch in unserer Praxis etwa 10:1 entspricht.
© Oliver Bassi